Osteopathie Drucken E-Mail
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Geschrieben von: Administrator   
Sonntag, den 11. November 2007 um 00:00 Uhr

Osteopathie- eine manuelle Therapie, die auf den ganzen Menschen wirkt


Die Osteopathie wurde von dem amerikanischen Arzt Dr. Andrew Tailor Still (1828-1917) in der letzen Hälfte des vorigen Jahrhunderts begründet. Dr. Still war zu seiner Zeit mit den Ergebnissen der zeitgenössischen Medizin nicht mehr zufrieden. Er war der Meinung, daß viele Medikamente und viele, oft unnötige Operationen nicht selten nur ein Ersatz waren für zu geringe Kenntnisse der Zusammenhänge menschlichen Lebens und damit auch Ausdruck der bestehenden Hilflosigkeit von Arzt und Patient. Er ging davon aus, daß „Gott den Menschen so gut geschaffen hatte, daß man weder etwas hinzufügen, noch etwas wegzunehmen bräuchte.“

 

Dr. Still hielt es für besser , anhand gründlicher Kenntnisse von Anatomie und Physiologie mit den Patienten zu arbeiten und dem Organismus durch verbessern der Durchblutung und durch Befreiung der inneren Selbstheilungskräfte ein besseres Funktionieren zu ermöglichen. Er sah im Osteopathen also eine Art Mechaniker, dessen Aufgabe es ist, den Organismus des Lebens gewissenhaft zu warten, und dem Ingenieur nicht an seiner Kreation herumzupfuschen. Diese bescheidene Haltung gegenüber der Schöpfung und den selbstregulierenden Kräften der Natur ist ein wichtiger Bestandteil der Philosophie, die untrennbar mit dem Begriff „Osteopathie“ verbunden ist.

 

Den menschlichen Körper in einem größeren Zusammenhang betrachten


Dr. Still faßte seine Idee in vier Grundprinzipien zusammen:

 

  1. Der menschliche Körper funktioniert als Einheit.
  2. Der Körper verfügt über selbstheilende Mechanismen (heute würde man dies als Immunsystem und Erhaltung des biologischen  Gleichgewichts bezeichnen).
  3. Struktur und Funktion stehen in Wechselbeziehung zueinander.
  4. Ein abnormer Druck oder eine Spannung in einem Teil des Körpers produzieren einen anormalen Druck in einem anderen Teil des Körpers.

 

Alle Arten von Medikamenten lehnte er ab - eine in Kenntnis der damaligen Zeit leicht verständliche Haltung.

Eine der wichtigsten Grundlagen des Lebens ist die Bewegung und Beweglichkeit des Organismus. Bei seinen Patienten konnte Dr. Still regelmäßig Einschränkungen der Beweglichkeit der örtlich betroffenen Gewebe, aber auch reflektorisch bedingte Bewegungsverluste der Wirbelsäule oder auch Bewegungseinschränkungen des Schultergelenks bei Schulterproblemen ertasten. Diese versuchte er in der Therapie wieder zu mobilisieren, um durch eine Optimierung der arteriellen Durchblutung und des venösen und lymphatischen Abtransports von Stoffwechselprodukten Selbstheilung zu ermöglichen.

 

Bei allen seine Patienten war es ihm also möglich, zu den jeweiligen Erkrankungen passende Einschränkungen der Beweglichkeit der betroffenen Gewebe und des Knochenapparates zu ertasten. So kam er zu dem Begriff Osteopathie, „Os“, der Knochen, als Hebel gegen „Pathos“, die Leiden oder Leidenschaften.

 

Lange Tradition in den USA, England und Frankreich


Durch langjährige Übung erlangte er  sehr gute palpatorische (palpieren: tasten, fühlen) Kenntnisse und Fertigkeiten, die er später an seine ersten Studenten weitergab. Im Jahre 1894 kam es dann zur Gründung der ersten Hochschule für Osteopathie in Kirksville, im US. Bundesstaat Missouri. Diese Universität war von den offiziellen Behörden anerkannt und besteht im vielfach erweiterten Rahmen noch heute. Viele Neugründungen kamen im Laufe der Zeit hinzu, so daß die Osteopathie gegenwärtig ein integrierter Bestandteil des amerikanischen Gesundheitssystems ist.

 

Durch zurückkehrende Immigranten gelangte die Osteopathie schon sehr frühzeitig nach Europa. So kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Gründung von Schulen in England, später in Frankreich und Belgien und schließlich 1988 auch in Deutschland. Sie ist also keinesfalls eine neue Methode, sondern eine bewährte Behandlungsmethode mit wissenschaftlicher Tradition, die zur Grundlage verschiedener Richtungen manuell-therapeutischer Schulen wurde.

 

So entwickelte sich zum Beispiel die Chiropraktik in den USA direkt aus der Osteopathie. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang notwendig, die Osteopathie von der Chiropraktik abzugrenzen, weil sich deren Techniken nur auf Teilgebiete (meist im Bereich der Knochen, Muskeln und Gelenke) beschränken!

 

Vorgehensweise in der Osteopathie


Die Grundlage der osteopathischen Arbeit ist, wie in der klassischen Medizin, eine möglichst genaue Kenntnis von Anatomie und Physiologie. Man macht diese allerdings zur Basis einer genauen palpatorischen Untersuchung, die immer die Grundlage jeder Behandlung darstellt und aus der sich dann die Diagnose und Therapie ergeben. Dabei wird der Organismus als Einheit begriffen, die man nicht in einzelne, voneinander unabhängige Einzelteile aufteilen und behandeln kann.

 

Neuere Forschungen über die Komplexität der Regelkreise im Organismus und über die neuro-vegetativen Zusammenhänge bestätigen diese Sichtweise.

 

Die osteopathische Dysfunktion


Als Grundlage der Arbeit mit den Patienten diente der Begriff „osteopathische Dysfunktion“, das bedeutet eine ertastbare Einschränkung der Beweglichkeit der Gewebe des Körpers als handfeste Richtlinie für Diagnose und Therapie. Im Gegensatz dazu steht die reine Symptombeschreibung- und Behandlung in der klassischen Medizin. Am einfachsten ist diese wahrscheinlich im Bereich der Gelenke nachzuvollziehen, als sogenannte „blockierte Gelenke“ der Wirbelsäule uns Extremitäten. Aber in der Osteopathie wird dieser Begriff noch viel weiter ausgedehnt, z.B. auf innere Organe und deren freies Gleiten gegeneinander oder Spannungen von Blutgefäßen im Rahmen von Anpassungsreaktionen an Streß. Auch die Verarbeitung emotionaler Traumen und deren Kompensation in komplexen Muskelverspannungen, die zu Haltungsveränderungen führen, gehört in diesen Bereich.

 

Man spricht von primärer osteopathischer Dysfunktion, wenn eine Einschränkung der Beweglichkeit eines Gelenks oder verschiedener Gewebe entsteht als Schutz gegen eine drohende Schädigung an dieser Stelle. Der sogenannte Hexenschuß z.B. ist oft eine derartige Reaktion:  Zum Schutz vor einer zu großen Bewegung wird ein Wirbel reflektorisch blockiert.

 

Eine sekundäre Dysfunktion entsteht als Anpassung an die bestehenden Bewegungseinschränkungen des Körpers. Jede primäre osteopathische Dysfunktion schränkt die in seiner Nachbarschaft liegenden bzw. mit ihm funktionell verbundenen Bewegungsmöglichkeiten ein. Es ist meist wenig sinnvoll, eine Behandlung im Bereich dieser sekundären Einschränkungen anzusetzen, vielmehr sollte immer versucht werden, so weit wie möglich die primäre Dysfunktion zu mobilisieren.

 

Ein Symptom entwickelt sich erst dann, wenn  der Organismus nicht mehr in der Lage ist, die Gesamtheit der bestehenden Dysfunktionen zu kompensieren, oder, mit anderen Worten, sein inneres Gleichgewicht zu erhalten. So ist vielleicht auch verständlich, warum häufig Probleme auftreten, ohne daß der Betroffene eine konkrete Ursache als Auslöser finden kann. Viele kleine Einschränkungen, die man oft gar nicht miteinander in Zusammenhang bringt, summieren sich und bringen „das Faß zum Überlaufen“. Die Kette der Kompensationsfähigkeit des Körpers reißt dann einfach an ihrem schwächsten Glied.

 

Der Beginn einer Krankheit oder auch von kleine Symptomen ist also immer das Ende einer langen kette von Versuchen des Organismus, seine bestmögliche Funktion zu erhalten und bestehende Einschränkungen, gleich welcher Art, möglichst ökonomisch zu kompensieren. Dabei ist es aus unserer Sicht wichtig, daß eine bestimmte Art von Hierarchie in den Kompensationsmechanismen vorgenommen wird. So werden bestimmte Bereiche des Organismus immer mit höchster Priorität geschützt. Diese sind an erster Stelle die lebenswichtigen inneren Organe: Atmung, Herz und Kreislauf, Verdauung und Ausscheidung, Fortpflanzung. Demgegenüber hat der Bewegungsapparat keine so wichtige Stellung. Viel Haltungsveränderungen oder andere Symptome, auch Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates sind somit oft nur Ausdruck eines Schutzes dieser vitalen Bereiche.

 

Das tasten als Grundlage der osteopathischen Behandlung


Die Feststellung einer Dysfunktion setzt langes und intensives Training des Tastvermögens voraus. Mit sehr differenzierten Techniken wird die Beweglichkeit der betroffenen Strukturen während der Behandlung gezielt verbessert und damit versucht, die Dysfunktion ganz oder teilweise aufzulösen. Dadurch wird es bei dem behandelten Menschen möglich gemacht, sich selbst auf natürliche Weise ins Gleichgewicht zu bringen und so eine ökonomische Funktionsweise zu finden. Der Osteopath heilt also den Patienten nicht, sondern gibt ihm die Chance, besser und ohne funktionelle Einschränkungen zu leben. Der Organismus als ökologisches System heilt sich selbst am besten und nachhaltigsten.  Der Organismus wird in der klassischen osteopathischen Behandlung also rein handwerklich unterstützt, um den griff zu Medikamenten und Operationen möglichst zu vermeiden. Die Grundlage der Osteopathie ist also immer die eingehende Untersuchung durch Tasten, eventuell unterstützt durch andere Diagnose-Maßnahmen und die lange Palette der möglichen Testverfahren. Es ist wichtig festzuhalten, daß der Osteopath nicht aufgrund von Symptomen behandelt, sondern eine ertastete Dysfunktion auflöst, damit sich das natürliche Gleichgewicht von alleine neu einstellt.

 

Teilgebiete der Osteopathie


man unterscheidet drei verschiedene Teilgebiete der Osteopathie.

 

1.   Osteoartikulärer Bereich


Er beschäftigt sich mit den Dysfunktionen der Gelenke des Körpers unter Beachtung der neuromuskulären Zusammenhänge.

 

2.   Visceraler Bereich


Er enthält das Arbeiten im Bereich der inneren Organe und deren Zusammenhänge zum Gesamtorganismus. Besonders in Hinsicht auf hormonelle und neurovegetative Anpassungs- und Kompensationsmechanismen. Außerdem fällt in diesen Bereich die Regulierung von Spannungen des Gefäßsystems und deren Ausdruck in der Körperhaltung.

 

3.   Cranio-sacraler Bereich


Der Name ergibt sich aus den beiden grundlegenden Elementen des cranio-sacralen Systems: Cranium= Schädel und Sacrum= Kreuzbein. Das cranio-sacrale Konzept wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts von dem Osteopathen Dr. William Garner Sutherland (1873-1954) entwickelt und als ein Teilgebiet in die Osteopathie integriert.

 

Behandlungstechniken in der Osteopathie


Die festgestellten osteopathischen Dysfunktionen werden manuell durch verschiedene Behandlungstechniken gelöst. Ich möchte die wichtigsten und bekanntesten kurz beschreiben und an dieser Stelle dringend darauf hinweisen, diese Werkzeuge nicht mit der Therapie zu verwechseln!

 

1.   Osteoartikuläre Techniken


Sie wirken direkt auf die Gelenke des Körpers und sind die Grundlage der Arbeit im Bereich von akuten und chronischen Problemen und Schmerzen des Bewegungsapparates.

 

[   Mobilisationen

 

Die eingeschränkten Bereiche werden durch mobilisierende Techniken gelöst. Diese sind weich und arbeiten unter Beachtung der Dehnbarkeit der Gewebe.

 

[   Manipulationen mit Impuls

 

Sie dienen zur Lösung von Gelenken der Extremitäten und der Wirbelsäule. Charakteristisch ist das bei der Lösung der Blockierung auftretende Knacken. Auch in der Chiropraktik und Chirotherapie gibt es solche Techniken.

 

[   Myotensive Techniken/ Muskelenergietechniken

 

Sie dienen ebenfalls zum Lösen von Gelenkblockierungen und stellen oft eine sanftere Möglichkeit dar. Es ist wichtig, die Wirksamkeit dieser Behandlungstechniken in einen Rahmen zu stellen, der über die bloße Betrachtung der lokalen Technik hinausgeht. Wenn ein Gelenk in seiner Beweglichkeit verbessert wird, werden sich daraufhin auch alle anderen Bereiche des Körpers neu einstellen, die allgemeine Kompensationsfähigkeit wird besser und schon eingetretene Kompensationsverluste  mit Symptomen können sich oft auflösen. Ein Beispiel soll dies erläutern:

 

Ein Mensch klagt immer wieder über Schmerzen im rechten unteren Rücken bis zur Hüfte. Massage und Krankengymnastik bringen zwar Linderung, aber keinen durchgreifenden Erfolg. Spritzen helfen kurzfristig. Der Schmerz kehrt jedoch immer wieder zurück und steigert sich bei Belastung. Manuell-therapeutische Behandlung des ilio-Sakral-Gelenks (Gelenk zwischen Hüftbein und Kreuzbein) hilft für einige Zeit, der Schmerz kehrt jedoch zurück. Es liegt eine altersentsprechende Veränderung der Wirbelsäule ohne Bandscheibenproblematik vor. Bei der osteopathischen Behandlung fallen nun einige Dysfunktionen des Fußes auf, an die sich der Patient bei Nachfrage dann auch erinnert (vor Jahren beim Fußball umgeknickt). Dieses wiederholte umknicken hat die Knochen des Fußes in ihrer Beweglichkeit blockiert und erfordert kompensatorische Spannungen im Muskel-Gelenk-System. Einige dieser Möglichkeiten der Kompensation zwingen das Hüftbein durch Zug der Muskeln des Beines in eine Anpassung, so daß die freie Beweglichkeit in Becken, Hüfte und Lendenwirbelsäule eingeschränkt ist. Das kann den immer wiederkehrenden Schmerz des unteren Rückens bewirken. Eine Behandlung des Symptoms kann also nie einen dauerhaften Erfolg erzielen, so lange die primäre Ursache nicht behoben ist. Selbstverständlich ist dies nur ein Beispiel, welches die Ursachen-Folgen-Kette verdeutlicht. Man kann sich in dieser Logik sehr viele Verkettungen als Hirngymnastik konstruieren, aber in der Praxis immer wieder neu finden als Ausdruck der Variabilität und der ökonomischen Reaktion des Körpers.

 

Anwendungsbereiche der Osteopathie


Der Wirkungsbereich osteopathischer Arbeit erschöpft sich nicht in der Behandlung des Bewegungsapparates, sondern wirkt auf den ganzen Menschen

 

in harmonisierender Weise unter Anerkennung seiner individuellen Einzigartigkeit. Der Osteopath behandelt keine Krankheiten, sondern Menschen. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, Indikationen für die Osteopathie anzugeben. Die Beseitigung von Symptomen ist nicht das Ziel der Behandlung, sondern nur ein Ereignis der Auflösung von Einschränkungen bzw. osteopathischer Dysfunktionen jeder Art. Da jedoch die Osteopathie in Deutschland noch relativ unbekannt ist, möchte ich einige Beispiele nennen, um eine Orientierungsmöglichkeit zu bieten.

 

[   Probleme im Bereich des   Bewegungsapparates: degenerative und verletzungsbedingte Störungen der Wirbelsäule und der  Extremitäten

 

[   Akut: Schiefhals, Hexenschuß, Ichiasbeschwerden, Sportunfälle, Schleudertrauma und Kopfverletzungen, Operationen an Kopf und Wirbelsäule

 

[   Chronisch: Arthrosen, kompletter rheumatischer Formenkreis, Schultersteifen, Skoliosen

 

[   Bereich Hals-Nasen-Ohren und Zahn/Kieferorthopädie:


[   Hörsturz, Schwindel, Tinitus, Nebenhöhlenentzündung, Nasen-Scheidewand-Asymmetrien, Mittelohrentzündung

 

[   Kiefergelenkprobleme, Zahnfehlstellungen, begleitend während und bei Problemen nach kieferorthopädischen Behandlungen, begleitend bei Kronen-, Brücken- und Zahnersatzbehandlungen

 

[   im Zusammenhang mir logopädischen Behandlungen

 

[   Bereich Kinderheilkunde


[   angeborene geburtstraumatische Probleme

[   übermäßiges „Spucken“ und Dreimonatskoliken/ Verdauungsstörungen

[   Psychische Störungen wie Lern- und Konzentrationsstörungen

[   Behandlung von Frauen vor und nach der Geburt

 

[   Probleme im internistischen Bereich


[   Verdauungsstörungen, Sodbrennen, Gastritis, Zwerchfellhernien

[   Probleme nach Bauch- und Thoraxoperationen, Verwachsungen

[   manche Arten von Herzbeschwerden und Bluthochdruck

 

[   Urogenitaler Bereich


[   Inkontinenz und Entleerungsstörungen, chronische Entzündungen, Senkungen, Menstruationsbeschwerden

[   Begleitend bei chronischen Nierenproblemen

 

[   Allergien und Systemerkrankungen, Autoimmunerkrankungen bei Kindern und Erwachsenen:


[   Heuschnupfen, Asthma bronchiale, chronische Bronchitis

[   Hauterkrankungen

[   Entzündlicher Gelenkrheumatismus, Morbus Bechterew.

[   Herpes zoster.

 

Ich möchte an dieser Stelle nochmals erwähnen, daß sich die Osteopathie auf die Befreiung der Selbstheilungskräfte stützt. Bei sehr ernsten oder akuten Erkrankungen (z.B. Krebs, Infektionserkrankungen) oder den obengenannten Systemerkrankungen bietet sie eine sinnvolle Ergänzung zur „klassischen“ Medizin.

 

2. Viscerale Techniken


Sie wirken auf den Bereich der inneren Organe, aber auch reflektorisch auf den Bewegungsapparat und die Atmung. Diese Techniken sind wichtig bei chronischen Krankheiten und ständig wiederkehrenden Beschwerden im Bereich der Organe selbst und am Bewegungsapparat, z.B. chronische Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule. In dieses Gebiet fällt ebenfalls die Gynäkologie, besonders bei chronischen Problemen wie Menstruationsbeschwerden, Blasenschwäche, Gebärmuttersenkung, Inkontinenz und vielem mehr.

Die Behandlungstechniken nutzen die Bewegungen der Organe, d.h. ihre Bewegung und Verschieblichkeit im Zusammenhang mit der Atmung und Körperbewegung, außerdem die Bewegung der Organe gegeneinander, mit der sie sich gegenseitig unterstützen wie die Zahnräder einer Uhr. Ein weiterer Behandlungsansatz ist die Mobilisation der Organe über ihre Aufhängung an der Körperwand. Diese Aufhängungen enthalten die Blut- und Lymphgefäße der Organe, sowie deren nerven zur Verbindung mit dem zentralen Nervensystem. Ein Beispiel: Ein Mensch hat immer wiederkehrende Schmerzen zwischen den Schulterblättern und im Nacken, ab und zu hat er ein „Kloßgefühl“ im Hals. Tabletten und Massagen haben für einen gewisse Zeit geholfen, sie verlieren aber zunehmend an Wirksamkeit. Die Krankengymnastik konnte die Beschwerden reduzieren. Außerdem geht der Betroffene nun viermal in der Woche schwimmen, was ihm sehr gut tut. Trotzdem verstärken sich die Beschwerden nach einigen Jahren zunehmend. In der Vorgeschichte des Patienten findet man eine Empfindlichkeit des Magens. In der Untersuchung durch Klopfen und tasten findet man eine Gastropose (der Magen ist abgesunken). Dies kann durch ein Tiefertreten des Zwerchfells kompensiert werden, was sich in einer Haltungsveränderung ausdrückt (der Patient beugt sich nach vorne). Wenn dies im Laufe der Jahre nicht mehr ausreicht, kann es zum Zug des Magens an der Speiseröhre und dem Herzbeutel kommen, der durch eine höhere Spannung der Muskeln im Bereich der Schultern kompensiert werden kann. Gleichzeitig kommt es zur Erhöhung der Spannung im Nacken. Die Tabletten, die der Patient genommen hat, „schlugen ihm damals auch schon auf den Magen“, was das eigentliche Problem noch verschlimmerte. Durch osteopathische Behandlung des Magens und der umliegenden Organe kann oft in wenigen Behandlungen eine Verbesserung der Spannungsverhältnisse erzielt werden. Gleichzeitig sollte eine Beratung zur Anpassung der Nahrungsmittel und der Eßgewohnheiten erfolgen.

 

3.   Cranio-sacrale Techniken


Sie arbeiten mit dem cranio-sacralen Rhythmus. Dies ist ein am ganzen Körper tastbarer Bewegungsrhythmus (wie Puls oder Atmung), der allerdings sehr subtil ist. Das Ertasten dieses cranio-sacralen Rhythmus bedarf zwar einiger Übung, ist aber generell für jeden Interessierten zu erlernen. Eine endgültige Klärung der Entstehung dieses Phänomens steht bis heute noch aus. Allerdings scheint die Produktion und Resorption des Liquor cerebrospinalis (Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit) eine entscheidende Rolle zu spielen. Neueste Forschungen der Universität Brüssel bringen immer mehr Indizien dafür. Dr. Sutherland hat auf der Grundlage dieses Körperrhythmus ein ganzes Konzept für Diagnose und Therapie entwickelt. Es erlaubt die Arbeit mit jedem Gelenk des Körpers, inklusive der Schädelnähte. Anwendungsbereiche für dieses Teilgebiet der Osteopathie anzugeben würde den rahmen dieses Artikels sprengen. Deshalb möchte ich nur einige Beispiele nennen: Die Behandlung von posttraumatischen Zuständen, Schleudertraumen, Schädeloperationen und der ganze Bereich der Kiefergelenksproblematik, hier in der Zusammenarbeit mit Zahnärzten und Kieferorthopäden und Kieferchirurgen. Auch das Hals-, Nasen-, Ohrengebiet kann auf diese Weise oft erfolgreich behandelt werden.

 

Die Behandlung von Säuglingen ist auf dieser Ebene ebenfalls sehr effektiv. Es ist z.B. möglich, Geburtstraumen nach einer sehr schnellen oder sehr langen Geburt unter dem Einsatz von Saugglocke und Zange zu behandeln. Die hierbei auftretenden disharmonischen Kräfte könnten unter Umständen das vom Kind selbstregulierbare Maß überschreiten. In diesem Falle bietet die cranio-sacrale Osteopathie eine sehr effektive Möglichkeit eine eventuell auftretende Verschiebung des noch nicht verknöcherten Säuglingsschädels zu korrigieren. Diese Probleme treten relativ häufig im Bereich des Hinterhauptbeines auf, weil es zum Zeitpunkt der Geburt noch aus vier Einzelteilen besteht. Eine frühzeitige Korrektur dieser Dysfunktion auf dieser Ebene bewahrt den kindlichen Schädel davor, ein asymmetrisches Wachstum auszuprägen. In Kombination mit dem visceralen Konzept ist darüber hinaus eine Möglichkeit gegeben, auf Verdauungsstörungen (besonders in den ersten drei Lebensmonaten), Erbrechen, Allergien, Übererregbarkeit und vieles andere positiv einzuwirken.

 

Die cranio-sacrale Arbeit ermöglicht es, eine sehr schnelle Beurteilung und osteopathische Diagnostik des Menschen in seiner Gesamtheit durchzuführen. Außerdem dient sie zur Integration des Teilbereiches zurück in das Ganze. Darüber hinaus haben sehr viele Osteopathen weitere Behandlungstechniken entwickelt, die als Werkzeuge für jede Situation nach Bedarf ausgewählt werden können.

 

Tiefes Verständnis des Zusammenspiels des Gesamtorganismus erforderlich


Nach der Vorstellung all dieser Techniken erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß sie ihren Stellenwert nur im Rahmen des Gesamtkonzeptes der Osteopathie haben. Jede Technik ohne Hintergrund der Kenntnisse von Anatomie und Physiologie wird immer nur Stückwerk und Versuch-Irrtum bleiben. So sind auch die drei beschriebenen Bereiche der Osteopathie Teile eines Ganzen, die nur zusammen eine vollständige Therapie ergeben. Ein einzelnes Gelenk zu manipulieren ist meist keine sinnvolle Behandlung. Osteopath und Patient arbeiten gemeinsam an den Hindernissen auf dem Weg zu Gesundheit und Wohlbefinden, um die Hemmnisse entweder zu beseitigen oder bewußt zu machen und so ein immer tiefergehendes Verständnis des Zusammenspiels des Gesamtorganismus (Körper, Geist und Seele) zu erreichen. Dies ermöglicht dann eine Selbstheilung. Die Grenzen der Osteopathie und noch viel wichtiger unsere eigenen Grenzen als Therapeut dürfen im Therapierausch und Machbarkeitswahn unserer Zeit nie aus den Augen verloren werden. Im direkten körperlichen Kontakt während Diagnostik und Behandlung eröffnet sich der Wert der Osteopathie. Ihre praktische Umsetzung erfordert allerdings langes Üben und Training manueller Fähigkeiten und Schulung der Sensibilität, deren Bedeutung in der Ausbildung und Arbeitsweise der klassischen Medizin unserer Zeit nicht erkannt wird. Die Schwerpunkte der Schulmedizin in der Pharmakologie und Operationstechnik haben eine grundlegend anderen Ansatz , aber in ihrer Wirksamkeit unbestreitbaren und oft genug lebensrettenden Wert. Im Erkennen und Behandeln funktioneller Störungen und im Einbinden des Menschen in seine Umwelt findet diese „Notfallmedizin“ jedoch oft ihre Grenzen.

 

Keine offizielle Anerkennung


Die Ausbildung in der Osteopathie ist nach unserem aktuellen Wissen, außer in England und den USA, nirgendwo gesetzlich geregelt. Auch in Deutschland gibt es demzufolge keine offizielle Regelung und Anerkennung. Auch die in Deutschland inzwischen angebotenen Ausbildungen unterscheiden sich sehr stark in Umfang und Art der gebotenen Ausbildung. Außerdem gibt es noch jede Menge Menschen, die Teilgebiete der Osteopathie als Ausbildung anbieten. Art und Qualität von Ausbildung und Behandlung können also sehr unterschiedlich sein.

 

Notwendigkeit der Osteopathie


Durch die Osteopathie werden die Selbstheilungskräfte des Menschen mobilisiert und die körperlichen wie psychischen Blockaden aufgelöst. Die so wiedergewonnene Freiheit erlaubt es jedem Einzelnen, sich den Anforderungen des Lebens in freier Beweglichkeit stellen zu können. Ist dies der Fall, so wird die sinnvolle „Warnlicht-Funktion“ des Symptoms in den meisten fällen nicht länger nötig sein und es kann wieder verschwinden. Osteopathie sieht sich nicht als Konkurrenz zur „klassischen“ Medizin. Jedoch ergibt sich durch ein anderes Welt- und Menschenbild und die damit unterschiedliche Setzung der Schwerpunkte im Umgang mit Menschen gebührender Raum und die Notwendigkeit der Osteopathie!

 

Mit freundlicher Genehmigung von J. Lütte

Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, den 21. Januar 2010 um 11:04 Uhr